Lazarus – der Arme.
Namenlos – der Reiche.
Die Handlung: Formuliert in klaren Fakten. Ungeschönt.
Klingt in meinen Ohren hart.
Bin ich doch ein Mensch, der Barmherzigkeit und Harmonie liebt.
Deshalb würde ich mir die Geschichte so wünschen:
Lazarus hat seinen Bettelplatz an der Tür des Reichen. Früher bettelte er hier und dort und hat so sein Überleben gesichert. Jetzt, wo er gelähmt ist, sich kaum fortbewegen kann, liegt er vor der Tür des Reichen. Zuerst nimmt ihn der Reiche kaum wahr. Aber als er beim Verlassen seines Hauses eines Tages fast über ihn gestolpert wäre, öffnet er die Augen. Er sieht ihn. Er nimmt ihn wahr. Zum ersten Mal. Er sieht sein Elend. Er lindert seine Not. Der Reiche versorgt ihn täglich mit Essen.
Irgendwann stirbt Lazarus und der Reiche richtet ein schlichtes Begräbnis für ihn aus. Zu schön um wahr zu sein? So funktioniert die Wirklichkeit nicht?
Wenn ihr das jetzt denkt, liegt ihr richtig.
Wenn die Wirklichkeit so einfach wäre, hätte Jesus diese Gleichnis nicht erzählen brauchen. Also, nochmal von vorn. Und nun, in der Realität, ganz nah am Lukas-Text:
Lazarus hat seinen Bettelplatz an der Tür des Reichen. Über seine Vergangenheit ist nichts bekannt. War er schon immer aufs Betteln angewiesen, oder hatten schwere Krankheit oder Schicksalsschläge ihn so aus der Bahn geworfen? Wir erfahren nichts darüber. Es ist ja für den Weitergang der Geschichte auch nicht wichtig.
Er liegt also dort, konnte nicht von Haus zu Haus gehen zum Betteln, war gelähmt. Die verwilderten Hunde werden ihm eher lästig geworden sein, aber er konnte sie nicht verscheuchen. Er hofft auf sein täglich Brot. Kein üppiges Mahl. Sondern was vom Tische eines reichen Mannes so abfiel. Er war offensichtlich sehr bescheiden und mit ganz wenig zufrieden. Wir dürfen ergänzen: Er bekam diese Abfälle selten oder nie.
An dieser Stelle komme ich schon das erstemal ins Nachdenken:
Wer bin ich? Wo stehe ich? Wäre ich Lazarus gewesen. Ich hätte gelitten unter solch unmenschlichen und demütigenden Lebensbedingungen. Gelitten wie ein Tier. Nicht besser behandelt als die verwilderten Hunde. Heimatlos, entwurzelt, einsam und verlassen. Ich stehe nicht, ich liege und kann nichts aus eigener Kraft daran ändern. Und erst in der Ewigkeit wird es besser für mich.
Schrecklich. Unvorstellbar. Ich bin nicht Lazarus. Gott sei Dank.
Wer bin ich? Wo stehe ich? Wäre ich der Reiche gewesen. Mein Leben in Luxus, Dienerschaft, Köche, hauseigene Schneider, Knechte und Mägde. Herrlich. Ich brauche keinen Finger zu rühren, alles fällt mir zu. Dieser Bettler vor meiner Tür. Oh, er ist mir lästig. Ein Schandfleck vor meinem Anwesen. Wenn ich könnte, ich würde ihn verjagen. Leider kann ich es nicht. Dieser Platz vor meinem Anwesen ist öffentliches Gelände. Hier darf jeder sein, auch ein Bettler.
Nun ich muss ja nicht hinschauen. Ich kann ihn einfach übersehen. Und irgendwann sehe ich ihn wirklich nicht mehr. Was kümmert mich seine Not. Ich bin nicht durch meine Barmherzigkeit reich geworden.
Schrecklich. Unvorstellbar. Ich bin nicht der Reiche. Gott sei Dank.
Vielleicht bin ich irgendwo dazwischen, manchmal hin- und hergerissen im Getriebe der Welt. Wo stehe ich? Das herauszufinden liegt in meinem Verantwortungsbereich, den Gott mir für mein Leben gab. Mein Hilfsmittel. Die Bibel. Das tägliches Gebet. In Verbindung mit Gott leben und auf seine Rufe hören.
Deshalb braucht es auch solche Geschichten, die Jesus hier zum Besten gibt. Wir erfahren einiges vom Schicksal des Lazarus, aber nichts über seine Person, seinen Charakter, seine Handlungen.
Aber eines fällt auf: Im Gegensatz zum Reichen hat der Arme im Gleichnis einen Namen, und der bedeutet etwa „Gott hilft“. „Gott hilft“ täglich in meinem kleinen armseligen Dasein. Ein kleiner Trost für Lazarus? Wenigstens nicht von Gott verlassen.
Vom reichen Mann sagt Lukas , daß er sich in Purpur und feines Tuch kleidete. Er muss sehr reich gewesen sein, Gewänder aus Purpur , ihre Herstellung war aufwändig und sehr teuer. Hunderte von Purpurschnecken benötigte man für ein einziges Gewand. Und er lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Oder einfacher ausgedrückt. Er lebt sorglos in den Tag hinein. Er kümmert sich nicht um die Belange seiner Mitmenschen, schon gar nicht um die von Bedürftigen. Und das er nach seinem Tod in die Hölle kam, schien ihm kein Kopfzerbrechen zu bereiten. Wer denkt auch im Leben an den Tod.
Mehr also gab es über den Reichen nicht zu sagen.
Aber daß Lazarus auf den ersten Platz aller Gerechten kam, in Abrahams Schoß, das war für eine Überraschung. Lazarus hatte Geschwüre am ganzen Leib, war gelähmt und arm. Er war, wie die Mehrheit damals meinte, von Gott mit Krankeit und Armut gestraft. Auf ihn konnten und durften die anderen herabsehen.
Und damit kommt eine neue Dimension des Denkens in die Geschichte hinein.
Für den Reichen nicht mehr. Er ist in der Unterwelt, im Hades, im Zwischenreich zwischen Himmel und Hölle. Hier kann sich im Gericht noch manches entscheiden. Nicht für ihn – auf ihn wartet der endgültige Tod in der Hölle. das scheint er kapiert zu haben. Denn er bittet nur um Linderung seiner Qualen.
Dass dies unmöglich sei, wird ihm sehr schnell von Abraham verkündet. Zu groß ist die Kluft.
Hier kommen wir nicht zusammen. Der Reiche nennt ihn „Vater Abraham“. Abraham spricht ihn mit „mein Kind“ an. Abraham – Stammvater der Juden. Der Reiche – ein Kind des Judentums. Dennoch – unüberwindbar ist die Kluft, die jetzt zwischen ihnen steht.
Ist das nicht ungerecht? Kann das überhaupt so stimmen? Der spätere Preis für das gute Leben so hoch? Außerdem ist dem Reichen vorher nicht gesagt worden, daß er hinterher einen derart überhöhten Preis bezahlen würde. Wie kommen wir da heraus?
Die Umkehrung der Schicksale nach dem Tode war damals eine geläufige Vorstellung im Judentum. Deshalb dürfen wir annehmen, daß Jesus damit nichts Neues sagen wollte. Er hat diese Vorstellung hier nur benutzt und nicht als Gesetz aufgestellt. Er hat sie benutzt, damit wir, seine Zuhörer, verstehen lernen.
Warum ist es für Reiche schwer, in das Reich Gottes zu kommen? Für Reiche gibt es viele Vergnügungen, die sie gefangennehmen können. Sie haben es schwerer als Arme, sich in die materielle Not armer Mitmenschen einzufühlen. Man gewöhnt sich so leicht an das Elend, genauer: An das Elend anderer. Von ganz Armen, die im Elend leben, hört man, daß sie alles miteinander teilen.
Wie alle Gaben, so kann auch der Reichtum uns zum Guten dienen oder vom Guten ablenken.
Vor allem wegen dieser Ablenkung haben es Reiche viel schwerer, in das Reich Gottes zu kommen, aber es bleibt ihnen möglich. Der Reiche im Gleichnis war so mit seinem Reichtum beschäftigt, daß er den notleidenden Menschen an seiner Seite nicht sah.
Der Mensch neben uns, der uns braucht, ist wichtiger als Sachen und Vergnügungen. Wir sind gerufen, den Nächsten und seine Not zu sehen und das Nötige zu tun. Für sein eigenes Schicksal nimmt der Reiche die harte Antwort Abrahams klaglos hin. Er spricht jedoch Abraham ein zweites Mal an und bittet ihn, den Lazarus zu den fünf Brüdern zu senden, um sie zu warnen. Abraham lehnt das ab und sagt: „Sie haben Mose und die Propheten, die sollen sie hören.“ Diese Aufforderung ist der Kern der Erzählung.
Mose und die Propheten, das steht für die hebräische Bibel, für unser Altes Testament. Und hören, das heißt hier zugleich gehorchen.
Mose, das ist die Weisung in den fünf Büchern Mose, das Gesetz, darunter die zehn Gebote. Bei Mose steht auch, wie man die Armen behandeln soll, daß die Armen Rechte haben, Anspruch auf Mitmenschlichkeit. „Wer seinen Acker ab erntet, soll etwas für die Armen liegen lassen.“
Die Propheten klagen immer wieder öffentlich die Hartherzigkeit gegenüber den Armen an.
So weit. Alles klar. Kann man zu Lebzeiten alles erfahren. Abraham erteilt dem Reichen eine Absage. Obwohl sein Wunsch doch zu verstehen ist. Er sieht jetzt, wie aussichtslos es in seinem neuen Leben in der Ewigkeit sein wird. Und Ewigkeit – die dauert.
Da ist es doch ein feiner Zug, das wenigstens seine fünf Brüder gewarnt werden sollen. Schließlich sind sie auch reich und menschlich wahrscheinlich ähnlich drauf, wie der Reiche. Aber eben, aus Abrahams Sicht völlig unnötig. Mose und die Propheten, dort hätte der reiche Mann zu Lebzeiten lesen können, wie er hätte handeln sollen, und dort können es seine fünf Brüder immer noch lesen. Die Erzählung weist also mit Nachdruck auf den Willen Gottes hin, wie er schon im Alten Testament steht. Und Gottes Wille ändert sich nicht.
Wir merken: In diesem Text geht es ums Ganze. Irgendwann ist Schluss mit Lustig. Ich habe genug Entscheidungsspielraum. Mein Leben lang im Hier und Jetzt. Jeden Tag neu.
Jetzt kennen wir die Personen dieser Erzählung. In welchen davon können wir uns wiederfinden, über 2.000 Jahre später, mit einer anderen Kultur und mit anderen Lebensgewohnheiten?
Mancher, der in einer großen Not ist, mag sich in der Rolle des Lazarus wiederfinden. Kaum einer wird sich hier für einen gottlosen Prasser halten. Wir könnten jetzt in die Versuchung kommen zu sagen: “Ach ich bin ja nicht reich. Gut, mich betrifft das hier nicht.” Doch: es betrifft mich.
Wir haben längst gemerkt: es geht hier nicht nur um materiellen Reichtum. Auch wer nicht reich ist, hat gute Gaben empfangen, hat irgendeinen Reichtum. Deshalb ist es richtig, wenn wir uns mit dem Schicksal des Reichen befassen. Der Reiche wurde gerichtet, weil er Gutes unterlassen hat. Das Genießen für sich allein ist nicht böse; ich genieße gern gutes Essen, ein Glas Rotwein, meine Mitgliedschaft im Fitness-Studio, Ausflüge, meine Freizeit.
Aber wenn es uns gefangen nimmt, wenn es uns hindert, die Not des Nächsten zu sehen, dann laufen wir in die falsche Richtung – weg von Gott. Wie beim reichen Mann kommt es auf das Gute an, das wir tun könnten und nicht tun.
Wir haben noch viel Spielraum in diesem Leben. Auch wir werden eines Tages vor Gott stehen und in den Himmel wollen. Wir haben Jesus gehört. Aber haben wir ihn auch verstanden? Haben wir erkannt, was er uns für unser Leben jetzt schon mitgeben will? „Schon jetzt“ Anteil am ewigen Leben – aber „noch nicht“ die Fülle des ewigen Lebens. Das ist der Spannungsbogen, in dem wir als Christen heute leben. Es ist mein Verantwortungsbereich in dieser Welt und vor Gott. Es sind meine Gaben, meine Möglichkeiten, die ich ganz unterschiedlich verwenden kann. Denn dieser Reiche im Text, das bin auch ich.
Ich kann an dem Bettler (könnte ich ihn eventuell sogar Lazarus nennen) in der Weimarer Innenstadt vorbei gehen und ihn nicht sehen. Ich kann ihm aber auch eine Tüte Brötchen oder Obst vom Wochenmarkt schenken. Indem ich ein klein wenig Zeit opfere und ihm etwas Nötiges besorge.
Ich kann die anderen warnen, indem ich ihnen von der frohen Botschaft Jesu erzähle und mit meinem eigenen Tun Zeichen setze.
Nicht, um selbst gut dazustehen. Nicht, weil ich mich durch gute Werke erlösen kann. Wir wissen, dass das nichts wird. Denn Werke ohne Glaube sind eine tote Sache.
Ich will lebendig glauben. Gott hat mich reich beschenkt mit Gaben. Jeden von uns. Ich bin der Reiche. Aber ich will meinen Reichtum teilen, weil es mir eine Herzensangelegenheit ist. Weil mein Schöpfer mir auch Verantwortung ins Herz gelegt hat. Mit meinem ganzen Herzen möchte ich sehen, wo ich beschenken kann. Ich kann meine Freizeit egoistisch für mich nutzen, oder eben meiner Schwester beim Kurantrag ausfüllen helfen oder spontan einen Schrank mit ihr zusammen bauen. Mit meiner Nichte Englisch lernen. Meine Gaben sind mein Reichtum und ich habe es in der Hand, wer etwas davon hat.
Meine Eingangsfrage: „Wo stehe ich?“ beantwortet sich beinahe von selbst. Dort, wo ich in Jesu Spuren gehe. Wo ich aus der Fülle weiterschenke, die mir schon hier gegeben ist. Jesus ist nach seinen Worten nicht gekommen, um zu richten, sondern um zu retten. Er schildert uns Gott als seinen Vater und unseren Vater, der uns liebt, der uns nicht in irgendeine Hölle bringen will. Wir sollen ihn ernst nehmen, so wie man einen Vater ernst nimmt.
Deshalb tun wir Gutes. Nicht aus Furcht, sondern aus Dank für alles Empfangene und aus Liebe zu Gott und mit Freude. Jesus hat uns ein Leben in Fülle verheißen. Nicht ein Fitzelchen, sondern alles gibt er uns. Überfließend, überreichlich, damit auch wir austeilen können. Ein Leben der Fülle, das vertrauensvoll von den Geschenken Gottes lebt, dankbar davon weitergibt und erwartungsvoll in die Zukunft schaut. Das ist sein Lebensprogramm. Unser Lebensprogramm, da wo wir in seinen Spuren gehen.
Amen.
Predigt von Korina Fischer-Wiegand vom 7.6.2015 über Lk 16,19-31 „Der arme Lazarus“