… und ging außer Landes – Predigt über Mk 12,1-12

„Wenn Gott die Welt so gut geschaffen hat, wie es in der Bibel steht, warum sieht sie dann grad so anders aus?“ Erik sitzt in meinem Religionsunterricht der 9. Klasse. „Wenn er doch der gute Schöpfer ist. Herr über Leben und Tod, warum scheint es dann so, dass er die Welt verlassen hat?“ Da war sie: Die Frage. Ich hätte mit ihr rechnen müssen. Die Klasse schaut mich an. Wie werde ich reagieren? Was werde ich antworten? Erik sitzt mit fragendem Gesicht mir direkt gegenüber. Er weiß genau, wie es gerade in der Welt zugeht. Er weiß genau, dass nichts gut ist in unserer Welt. Ein Klick auf seiner Startseite im Netz. Puuh! Was antworte ich?

Michal steht am Straßenrand. Quer über die Straße ist sein Haus, oder was davon übrig ist. Er lebt im Osten der Ukraine. Er steht da und sieht über die Straße. An seiner rechten Hand seine kleine Tochter Mascha. Tränen füllen seine Augen. „Was ist auf einmal nur passiert?“, fragt er sich. „Wie sind wir da hinein geraten? Das kann doch nicht sein! Alles weg, so ist das kein Leben mehr, egal ob mit Separatisten oder mit Putin!“ Trauer und Ärger mischen sich in Michals Kopf. Sein Herz kann nichts mehr fassen. „Ich brauch Hilfe!“, kommt es gerade klar durch seinen Kopf. „Gott, warum hilfst du mir nicht?“

Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes.

Liebe Gemeinde,
auf kuriose Weise trifft mich dieser erste Vers unseres Bibeltextes heute besonders. Denn ganz wie von selbst schwingt mit diesem Vers die Frage mit, warum geht der Herr des Weinbergs eigentlich außer Landes? Will er woanders leben? Was hat er besseres vor? Oder was hat er noch anderes wichtigeres zu tun? Ich weiß es nicht. Doch seltsamer Weise passt dieser Text nur allzu deutlich in unser Leben. Mal erleben WIR uns verlassen. Mal erfahren wir, dass Menschen auf dieser Erde verlassen sind, nichts mehr haben und vor den Trümmern ihres Lebens stehen. Jesus erlebt sich verlassen und schreit am Kreuz. Menschen leiden unter ungerechtem, gewaltvollem oder ignorantem Handeln. Da spüre ich, dass ich ganz bei Eriks Frage aus dem Religionsunterricht bin.

Menschen leiden unter Gewalt, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind.

Auch die Knechte, die in den Weinberg im Auftrag des Herrn kommen, scheinen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Ungeahnt treffen sie auf Weingärtner, die ihrer Gewalttätigkeit freien Lauf lassen. Nichts ahnend sind sie plötzlich in eine Situation hineingeworfen und geraten zwischen die Fronten. Zwischen den Frust, die Angst und die Wut der Weingärtner und den Auftrag des Herrn, die Früchte als Pacht einzutreiben. Vielleicht fühlen sich die Weingärtner allein gelassen in ihrer ganzen Arbeit und der Schufterei. Im Schweiße ihres Angesichts haben sie vielleicht das Gefühl, dass ihre Arbeit mehr Wert ist als der Herr ihnen lässt. Vielleicht fühlen sie sich um einige Früchte betrogen und reagieren deshalb mit Gewalt.
Diese Gewalt steigert sich im Laufe des Gleichnisses. Gleichsam zeigt uns Jesus, der sowohl den Schriftgelehrten als auch den Jüngern als auch uns das Gleichnis erzählt, wie weit dieser Akt der Gewalt gehen kann, und weist damit auf sich selbst.

Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs hole. Sie nahmen ihn aber, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Abermals sandte er zu ihnen einen anderen Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Und er sandte noch einen anderen, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die anderen töteten sie. Da hatte er noch einen, seinen geliebten Sohn; den sandte er als Letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.

Wenn wir nach Gewalt und Ungerechtigkeit in unserem Weinberg fragen, müssen wir nicht lange suchen. Manche Hintergründe unserer Lebensabläufe sind so undurchsichtig, dass wir nur machtlos davor stehen. Doch manchmal müssen wir gar nicht erst weit blicken. Es ist gut und auch heilsam einmal bei sich zu gucken. Wie lebe ich? Wo sind vielleicht meine Anteile, dass Beziehungen so sind wie sie sind? Ich denke schon, dass dies auch unsere Aufgabe ist. Denn das hat es ja auch mit dem Weinberg auf sich:

Der Herr gibt Verantwortung ab, dass wir uns kümmern können, etwas tun, Früchte bringen. Er glaubt sogar so stark an die Weingärtner und Knechte, dass er sich vertreten lässt. Ist nicht weg, sondern immer da, im Kopf und im Herz. Ich glaube so ist es auch mit Gott. Verantwortung hat er uns gegeben, freilich ein hoher Anspruch. Zu sagen: Na, Gott mach doch, wenn du der große Weltenlenker bist! Warum tust du nichts für die Armen und Bedrängten und Verfolgten und den vielen anderen? Warum tust du nichts für mich? Wenn wir immer so heran gehen würden, hätten wir, so glaube ich, zu kurz gedacht. Dann würden wir unsere geschenkte Verantwortung wieder abgeben, würden nichts entscheiden und uns selbst aus dem Weinberg werfen. Gott aber will da sein und uns entscheiden lassen.

Unser Abendmahl ist so eine Möglichkeit, denn ich kann mich hier und jetzt Gott anvertrauen, meine Fehler erkennen und mich wieder stärken lassen. Teilen von Brot und Wein macht uns neu bewusst, dass Gott sogar seinen Sohn gibt. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden.“ Jesus wird zum Eckstein bzw. zum Prüfstein, woran sich entscheidet: Gehe ich weiter mit der Gewalt oder wähle ich einen anderen Weg. Für einige Schriftgelehrte, die genau verstanden haben, dass sie gemeint sind, hat sich vielleicht an diesem Eckstein/Prüfstein etwas entschieden. Für andere nicht.

Die 9. Klasse und Erik warten immer noch auf eine Antwort. Und auch Michal steht immer noch am Straßenrand mit seiner Tochter Mascha an der rechten Hand und sieht sich seinen zertrümmerten Leben gegenüber. Die Frage nach dem Warum kann ich nicht so leicht beantworten, doch ich möchte den Versuch wagen, es anders zu sehen:

Mit der Verantwortung, die uns Gott für unser Leben gegeben hat, sind wir aufgefordert, unser Leben nach der Liebe auszurichten. Wir machen uns so unsere Gedanken, ob wie was richtig läuft in der Politik der Welt und sehen die vielen Abgründe auf unserer Erde. Aber haben wir uns entschieden? Wie wollen wir leben in UNSEREM Weinberg? Wie wollen wir leben mit unserer Verantwortung für das Leben? Gott will weiter bauen am Weinberg, sonst wäre Jesus nicht bei uns gewesen, sonst wäre Gottes Geist nicht unter uns. Gott ist da, so glaube ich. Sonst säßen wir nicht hier, sonst hätten wir im Glauben keine Hoffnung.
Bauen wir also an unserem Weinberg! Pflanzen wir an, pflegen wir ihn und sammeln die Früchte, lassen wir ihn nicht brach liegen. Kümmern wir uns um einander. Die Entscheidungen der Welt fangen bei uns an. Was wir zwischen uns leben. Was zwischen dir und mir geschieht, ist das Kleine, das zum Großen werden kann.

Er löse uns von dem Bösen.
Er löse uns von dem Falschen.
Er löse unsere Fesseln.
Er lasse spüren seine Kraft,
er lasse werden sein Reich,
Er lasse sein die Ewigkeit in Seiner Herrlichkeit.

Amen