Geistliches Wort in der Herbst-Ausgabe der „Lichtblicke“ – Gemeindebrief des Kirchspiels Kranichfeld
Von Nils-Christian Engel
Ein kleiner Engel ist seit vielen Jahren schon bei mir: Ganz still steht er da, auf meinem Schreibtisch, die Flügel an den Rücken gelegt und die Hände zum Segen erhoben. Es gab eine Zeit, in der da niemand stand; ich habe ihn von meiner Schwester geschenkt bekommen. Aber er kommt nicht und er geht nicht: Er ist da. Sein Gesicht ist wach und aufmerksam. Wenn ich herausfinden will, ob es freundlich oder bedrohlich, voll Zuversicht oder Sorge ist, komme ich zu keinem Ergebnis. Ich weiß auch nicht, ob er ein Mann oder eine Frau ist – er, sie ist beides und keins, wie fast alle Engel seit alter Zeit.
Mein forschender Blick dringt nicht zu ihm durch. Ich sehe, dass er knapp 7 cm hoch ist und ganz aus Bronze. Er ist recht schwer, für seine Größe. Ich könnte ihn wiegen, aber ich tue es nicht. Stattdessen lege ich ihn in meine Hand und bin überrascht, wie gut er passt: Er fügt sich ein, als wäre er ein vergessener Teil meines Körpers. Ich weiß, dass es tausende seiner Art gibt, aber es fühlt sich an, als könnte er nur in meine Hand so gut passen.
Er wird ein wenig warm, wenn ich ihn so halte. Er kühlt meine Hand.
Mit den Augen betrachtet, ist er ein seltsames Wesen. Aber er ist einer der besten Tröster, die ich kenne: Einer, der sich alles anhört, geduldig und endlos konzentriert. Ich muss nicht einmal mit ihm reden, er hört mich trotzdem. Er hört mir zu, und ich erinnere mich, dass da ja noch ein anderer ist, ein anderer für mich da ist, einer mit noch mehr Geduld und Aufmerksamkeit. Dann stelle ich den kleinen, warm gewordenen Bronzeengel wieder an seinen Platz.
An manchen Tagen scheint er selbst aktiv zu werden und fällt laut polternd um, wenn ich in Eile bin und irgendwelche Dinge auf dem Tisch herumschiebe. Weil ich ihn achte, lasse ich ihn dann nicht liegen – auch wenn die Zeit noch so sehr drängt. Das kostet einen Moment, weil er sich von einer hektischen Hand nicht aufstellen lässt: Sein Schwerpunkt liegt weit oben, über dem Getümmel meines Lebens, und so muss ich kurz innehalten, um ihn ins Gleichgewicht zu bringen.
Wenn ich ihn aufhebe, wirft er sein ganzes Gewicht in die Waagschale meiner Hand, als würde er sagen: „Halt! Erinnere dich!“ Und mehr noch als über seinen Trost bin ich über diese Mahnung froh: Die mich bremst, wenn ich unüberlegt handeln will. Die mich an mein Ziel erinnert, wenn ich es aus den Augen verliere. Die mir sagt, dass ich Mensch allein höchstens ein paar Dinge umwerfen kann, aber nichts Gutes bewirken werde.
An manchen Tagen ist der Engel in meiner Hand schwer wie ein Kreuz.
Vor einigen Wochen, am Pfingstsonntag, habe ich ihn weitergegeben – nicht diesen einen Engel auf meinem Tisch, aber seinesgleichen, als Geschenk unserer Gemeinde an die Konfirmandinnen. Vielleicht steht er jetzt auch auf dem einen oder anderen Tisch, vielleicht liegt er gerade in einer Tasche oder in einer Schublade und wartet auf den richtigen Moment, wach und aufmerksam – wie er ist, seit alter Zeit.