Das Ende ist nicht das Ende

Geistliches Wort in der Oster-Ausgabe 2019 der „Lichtblicke“ – Gemeindebrief des Kirchspiels Kranichfeld
Von Pfarrer Philipp Gloge

„Ich kann Ihnen keine Hoffnung machen. Sollte sich die Diagnose bestätigen, müssen Sie mit einer lebensbegrenzenden Perspektive rechnen.“ Der Arzt, der nicht umhin kommt, der Patientin und deren Ange hörigen reinen Wein einzu schenken, tut das verklausuliert. Er kann nicht einfach sagen: „Jetzt geht‘s ans Sterben.“ Er scheut sich vor allzu direkten Worten. Sie könnten verletzen. Doch ohne es zu wollen, gibt er mehr als nötig preis: die Hoffnung und das Leben.

Wenn es so ist, dass mit dem Sterben die Hoffnung erlischt und mit jedem Tod dem Leben der Garaus gemacht wird, was bleibt dann? Ist dann nicht auch das Kreuz nur ein dun kles Zeichen eines unerbittlichen Schicksals, einer Machtdemonstration des Todes, auf den alles Leben hinausläuft und über den hinaus nichts ist?

Wenn auf die Passionszeit kein Ostern folgen würde, dann wäre das so. Denn das Geschehen auf Golgatha scheint dafür den Beweis anzutreten. Jesus erntet in seiner Jämmerlichkeit nur Spott und Hohn. Für die Umstehenden stirbt er von Gott verlassen. Aber wir wissen es besser: Ostern gibt dem Tod nicht das letzte Wort. Das Kreuz wird trotz seiner Grausamkeit, für die es steht, zum Zeichen der Hoffnung.

Es bleibt dennoch eine wider sprüchliche Angelegenheit. Denn was würde der Kranke wohl von einem Arzt halten, der ihm sagt: „Sie werden sterben, aber machen Sie sich nichts draus. Bleiben Sie nur getrost und hoffnungsvoll“?

Karfreitag ist und bleibt eine Zumutung. Am Ende einer im Neuen Testament breit ausgeführten Leidensgeschichte hängt der Mann am Balken, nackt und bloß. Gottes Schöpferkraft und Allmacht stehen in hartem Kontrast zum Ausgeliefertsein, zu Ohnmacht und Tod. Mit aller Wucht schildern Matthäus und die anderen Evangelisten Jesu Passion. Da ist das letzte Abendmahl mit den Jüngern, der Verrat des Judas, die schmähliche Verleugnung durch den Apostel Petrus, der Prozess vor den Hohepriestern und dann vor Pontius Pilatus, die Auspeitschung und Verhöhnung des Verurteilten durch römische Legionäre. Und schließlich die Hinrichtungsstätte, wo Jesus mit zwei Aufständischen zusammen ans Kreuz geschlagen wird.

Und über alledem steht wie auf einer Tafel mit riesigen Buchstaben: das ist Gott. Und exakt das ist gemeint. Nicht: dieser Mensch ist von geradezu göttlicher Weisheit und Güte. Sondern er ist Gott selbst. Die Gegner des Christentums halten das für eine Perversion. In ihren Augen ist das Kreuz das Symbol des Masochismus. Im christlichen Glauben werde das Hässliche auf Kosten des Schönen verherrlicht. Das Schwache erhalte den Vorzug vor dem Starken usw. Wer sich ohne Vorbehalte auf die dramatische Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu einlässt, wird jedoch eine Grunddimension des Kreuzes erkennen, die uns alle angeht. Es stellt vertraute Gottes­ und Menschenbilder in Frage. Es macht Schluss mit der Projektion menschlicher Wünsche und Sehnsüchte an einen erdachten Himmel. Die Werte des Erfolgsmenschen werden entwertet, indem Jesus seinen Freunden mit wenigen Worten das Prinzip der Nächstenliebe erklärt: „Was ihr dem Geringsten unter meinen Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“

Nicht um zu zerstören, ist das Kreuz aufgerichtet. Der unverstellte Blick auf das Kreuz führt zu tieferen Einblicken in uns selbst, in die Abgründe unseres Herzens, unserer Seele, unserer Handlungen. Nicht um der Schadenfreude derer willen, die sich laben an dem Leiden der Anderen, ging Jesus ohne zu widerstehen ins Leiden. Sondern um der Versöhnung willen! „Lasst euch versöhnen mit Gott“, heißt dann auch die Botschaft, die die Passionsgeschichte mit der Auferstehungsbotschaft zusammenführt.

Die Allmacht, Güte und Wahrheit des über allem sich wölbenden Gottes steht nicht im Gegensatz zu der Knechtsgestalt des Gottessohnes. Das Ende ist nicht das Ende, sondern ein Anfang. Mit dem Blick auf Kreuz und Auferstehung öffnet sich ein Tor zum Leben aus der Kraft der Versöhnung. Das ist ein Leben, welches jenseits der Abbrüche, jenseits von Leid und Schuld, jenseits von Hoffnungslosigkeit und Angst neu beginnt.

So verkehrt sich die eingangs zitierte Diagnose des Arztes in ihr Gegenteil. „Ich kann Ihnen keine Hoffnung machen“, hatte der gesagt. Für uns soll es heißen: „Ich kann Ihnen Hoffnung machen. Gegen die Macht des Todes dürfen Sie mit einer lebendigen Perspektive rechnen. Ich wünsche Ihnen eine besinnliche Passions­ und eine fröhliche Osterzeit.